Zucker & Salz bei Papas Pizzaladen
Boring Suburbia 5
Christian verzog das Gesicht, als er die Zweiliterbombe Rotwein absetzte und schaute reichlich angewidert.
Trotzdem reichte der große Punk mit dem hochgestellten Mohawk die Weinbombe ohne Kommentar weiter an die anderen Punks, die alle brav schluckten, obwohl ihnen der Ekel deutlich anzusehen war.
»Salz! Die dumme Sau hat uns Salz in den Wein getan!«, rief einer der anderen Punks.
Man traf sich am frühen Abend regelmässig in der Kölner Kyffhäuserstrasse vor Papas Pizzaladen. Das war eine von zwei Imbissbuden, die Anfang der 1980er Jahre Türkische Pizza in der Stadt anbot.
Wenn auf der Domplatte nichts mehr los war, zog man zum Zülpicher Platz, oder ein paar Strassen weiter, und meist kam unterwegs beim Geldschnorren genug zusammen, um bei »Papa« für siebenmarkfünfzig eine Zweiliterflasche Pennerglück zu erstehen. Das Zeug schmeckte so widerlich, dass Papa - der Besitzer der Imbissbude - auf Wunsch der Punks dem sauren Wein immer zwei Esslöffel Zucker zusetze. Ein super Service.
Wenn nicht diesmal ein Angestellter absichtlich zwei Esslöffel Salz statt Zucker in die Flasche gegeben hätte!
Ganz unschuldig daran waren die Punks nicht.
Einige Wochen zuvor hatte Paul - zum Entsetzen der Mitarbeiter und Gäste - einem anderen Punk das Ohr auf einen der Stehtische genagelt. Dass das Ganze kein willkürlicher Gewaltakt, sondern ein Versehen war und Ritchie Paul nur gebeten hatte, ihm mit improvisiertem Werkzeug ein Ohrloch zu stechen, konnte ja niemand wissen.
Paul hatte sich zu diesem Zweck Hammer und Nagel von Papa geliehen und mit drei wuchtigen Schlägen Ritchies Ohr auf der Platte des Stehtisches fixiert. Das Ganze unter dem Gejohle der anderen Punks. Andreas und Pferdekopf reichten dann die Kneifzange weiter, die Papa ungefragt mit inzwischen säuerlicher Miene über die gläserne Theke reichte.
»Ihr verschreckt mir ja die Kunden«, nörgelte er .
Die »Nagelextraktion« gelang mit nur wenig Blutvergiessen, unter den Blicken vieler Schaulustiger, die sich ihre Nasen an der Fensterscheibe plattdrückten.
Nun, Ritchie war inzwischen im Knast. Am Hauptbahnhof hatten sie ihn geschnappt. Zusammen mit seiner Freundin und angeblich dreissigtausend Mark in Bar in einer Plastiktüte. Ein kurzes High, aber dafür war das Ende weniger blutig als bei Bonny & Clyde.
An einem anderen Tag wurden Papas Gäste Zeugen, wie sich zehn betrunkene Punks aus einem gestohlenen Mercedes quetschten. Und den Wagen vor dem Imbiss gemeinsam schiebenderweise seitwärts einparkten, weil der Rückwärtsgang nicht funktionierte.
Dass dem leicht schwankenden Fahrer - seines Zeichens »Käpt′n Chaos« - beim Aussteigen zwei Küchenbeile aus der Lederjacke fielen, fiel dann auch kaum noch auf.
Das alles störte Papa nicht, solange seine Geschäfte gingen.
Und als guter Imbisswirt ersetzte er selbstverständlich die fehlerhafte Ware und gab den Punks eine neue Flasche Billigwein, diesmal mit ordentlich Zucker.
Selbstredend wurde der versalzene Wein nicht etwa weggeschüttet ,sondern gleichfalls getrunken, wenn auch ohne Genuss.
Ebenfalls zu den Stammgästen zählten MacFlag und seine Freunde, die zwar Punk und Hardcore hörten, aber eher wie Normalos aussahen.
Sie nannten sich selbst »Trink Sport Verein Torpedo Papas« - nach dem Pizzaladen und ihrer Lieblingsbeschäftigung, abgekürzt TSV.
Der TSV mied das süß-saure Pennerglück und blieb beim Flaschenbier, dem klassischen Getränk der Arbeiterklasse.
Und dann war da noch »Dr. Peters«. Ein Künstlername, kein echter Titel. Einer der vielen echten und eingebildeten Philosophen, die man überall findet, wo es Rauschmittel und Publikum gibt.
Die Fantasien, die er zum Besten gab, zogen viele Zuhörer in ihren Bann.
Zumindest solche, die auch von schlechten Horrorfilmen aus der Videothek begeistert waren.
»Metastase
Metamorphose
Metagessen«
Lautete der Dreizeiler, mit dem er regelmässig seine Ergüsse einleitete. Dann referierte er über seine Spezialität: »Dr. Peters offene Herzmassage.«
Oder über die Frage von wollen oder müssen:
»Sehen Würste!«
»Sehen Kotwürste!«
»Sehen Kotwürste von Hunden!«
»Nicht essen wollen!«
»Essen müssen!«
Einige hegten den Verdacht, dass sein Spleen mit den Kotwürsten von Pasolinis »120 Tagen von Sodom »inspiriert war, ein italienischer Film, der zu dieser Zeit in diversen Programmkinos gezeigt wurde. Auch im Film gab es widerwärtige Dinge zu essen.
In jenem Jahr schien alles auf einen kalten Winter hinauszulaufen. Es gab zweistellige Minusgrade, und auf der Strasse vor Papas Pizzaladen wurde es sehr ungemütlich.
Also klingelte man bei den benachbarten Wohnhäusern und versuchte, so in die Keller zu gelangen um sich dort aufzuhalten. Das erschien immer noch besser als auf der vereisten Strasse zu frieren.
Als ein geeigneter Keller gefunden war, blockierte man die Schlossfalle, so dass sich die Haustür nicht mehr von selbst schliessen konnte und bog zusätzlich das Schliessblech auf. Genauso verfuhr man mit der Kellertür. Die dazu notwendigen Werkzeuge hatte man aus einem der aufgebrochenen Mieterkeller genommen. Anschliessend machte es sich die kleine Gruppe in einem Kellerverschlag gemütlich, der mit Sofa und Teppichen ausgestattet war. Sogar eine kleine Elektroheizung gab es und wurde sogleich in Betrieb genommen.
Der Raum wurde bisher offenbar von Hausbewohnern als Party und Proberaum genutzt.
Bis jetzt, denn die Punks erklärten den Keller offiziell im Namen des soeben ausgedachten »Kommando Weyerstraße« als besetzt und den Hausanschlussraum und einen dort befindlichen Eimer zum allgemeinen Klo.
Sie nutzten den Raum einige Abende lang, für jeweils ein paar Stunden. Jeden Tag hatten die Hausbewohner den Eindringlingen neue Hindernisse in den Weg gelegt. Provisorische Reparaturen wurden vorgenommen, um die Punks am erneuten Eindringen in ihren Keller zu hindern. Nichts schien sie aufzuhalten. Zu Gesicht bekamen sie die Hausbewohner nie .
Eines Tages versperrte eine nagelneue Stahltür den Kellereingang, und die Punks mussten endgültig draussen bleiben.
Die Szene bei Papas verlief sich mit den Jahren.
Die Punks und auch der TSV kamen noch bis Ende der 1980er Jahre regelmässig zum Essen, oder auf ein, zwei Bier. Bis der Besitzer wechselte und sich alles an andere Orte verlagerte.