Mit Vollgas gegen die Wand
Mit ÄTZER 81 nach Frankfurt (2)
Der dritte Aspekt, der das Image von Ätzer 81 prägte, war die tiefgreifende anarcho-sozialistische Grundhaltung der Band zu Privateigentum. Dessen Stellenwert in der Gesellschaft hielt man für deutlich überbewertet. Es herrschte eine gewisse Robin Hood-Haltung vor, nach der es durchaus in Ordnung war, von den Reichen zu nehmen und den Bedürftigen zu geben. Und auch wenn der soziale Hintergrund der Bandmitglieder das nicht zwingend nahelegte, so definierte sich die Band im Zweifelsfall doch eher als bedürftig.
Wolfi umschrieb die Folgen dieser Lebensphilosophie für das Buch »Wie der Punk nach Stuttgart kam« mit den Worten: »Es gab damals gewisse Mein-Dein-Probleme«. In einem Artikel im Fanzine »Gegengift« schrieb Rübe 1982 über das Ende der Band, sie sei von einer Punk-Band zu einer Einbrecherbande geworden und Wolfi habe »mit einer hohen Strafe für die Ätzerbrüche zu rechnen«. Der Beitrag im »Gegengift« war eine hochemotionale Abrechnung des Autors mit seinem früheren Sänger, der sich von der Punk-Bewegung distanziert hatte. Es war keine objektive Darstellung des Endes von Ätzer 81, zu dem es mindestens so viele unterschiedliche Darstellungen wie ehemalige Bandmitglieder gibt.
All das lag im Frühjahr 1981, zu Beginn der kurzen Karriere der Band, noch weit in der Zukunft, nicht erahnbar, und die Vergesellschaftung von vier Tüten Burger-Brötchen betrachteten wir als eine Art Mundraub. Wir gingen davon aus, dass bei der Menge an Brötchen, die dort auf der Rampe lagerten, die in unseren Besitz übergegangenen wahrscheinlich nicht einmal bemerkt werden würden.
Ob wir uns hier grundlegend täuschten, oder ob wir nicht die einzigen waren, die sich bei der Burger-Filiale unentgeltlich verproviantierten, ist mir nicht bekannt.
Aber als ich wenige Wochen nach unserer Frankfurt-Fahrt an der Stauffenbergstraße vorbeikam, stellte ich fest, dass das Gitter-Rolltor, das sonst immer oben gewesen war, nun tagsüber heruntergelassen war und den unkontrollierten Zugang zur Rampe verhinderte.
In gewissem Umfang bereuten wir die Brötchen-Aktion. Je mehr wir davon zu uns nahmen, desto mehr widerstanden sie uns. Wolfi und Rübe beschlossen irgendwann, dass sie lieber hungrig weiterfahren würden, als sich noch eines dieser Gebilde einzuverleiben. Bis wir Frankfurt erreichten, gab es niemanden mehr unter uns, der von den Brötchen essen wollte. Wir hatten zwischenzeitlich an einer Tankstelle angehalten und dort Schokolade und Kekse gekauft.
Als ich ca. eine halbe Stunde vor Erreichen der Main-Metropole mir noch eines der Brötchen hineinwürgte, stimmten alle darin überein, dass ich den gesamten verbliebenen Vorrat von eineinhalb Tüten gerne haben und aufessen könne. Mir widerstand schon dieses eine, mit etwas Cola rutschte es die Speiseröhre hinunter.
Wir hielten uns an die Skizze von Alptruck und fanden das Jugendzentrum. Es war auch schon jemand da, der mit der Organisation zu tun hatte, und so konnten wir recht zügig anfangen, das Auto auszuladen. Es fand sich bald eine Mülltonne, in der Lenker die McDonald’s-Brötchen versenkte.
Der Konzertraum war im Keller, die Treppe recht schmal, und so war es mühsam, das Equipment hinunter zu bugsieren. Vor allem Lenkers selbstgebaute Bassbox, die man zu zweit gerade so schleppen konnte, war eine Herausforderung. Aber auch sie gelangte wohlbehalten ins Untergeschoss und dort auf die Bühne.
Die Frankfurter Szene stand in dem Ruf, härter drauf zu sein als die Stuttgarter; Stunk und Schlägereien waren wesentlich häufiger, mit Provokationen und Tätlichkeiten war zu rechnen. Die Band focht das nicht an, die Jungs waren alle von stattlicher Statur – bis auf Rudi, der aber hinterm Schlagzeug saß. Man würde sich schon zu wehren wissen, sagte Rübe. Es gab einen ausführlichen Soundcheck, ein für Ätzer-Verhältnisse ausgesprochen professionelles Vorgehen.
Anschließend war noch Zeit ein bisschen abzuhängen, Leute zu treffen – Alptruck, Sittenstrolch, ein paar andere. Die gaben ein erstes Stimmungsbild ab. Wir setzen darauf, daß genug Leute kommen würden, d.h. das Benzingeld könnte größtenteils reinkommen - aber mal abwarten, solche Dinge waren unberechenbar.
Übernachtungsmöglichkeiten hatten sich keine mehr aufgetan, es blieb bei der Ansage, dass wir im Transit schlafen würden. Es war warm, wir waren darauf vorbereitet.
Tatsächlich fanden sich einige Leute ein. Manche schon knülle, und nicht alle schienen von Vorfreude auf die Band erfüllt zu sein. Es war in der einen oder anderen Ecke durchaus eine Stimmung zu beobachten, die ich aus Stuttgart so nicht kannte. Da waren manche, die ganz offen und provokant mit ihrer Haltung hausieren gingen, wonach die Band erstmal beweisen müsse, dass sie es wert sei, dass diese Leute sich den Auftritt überhaupt anschauen und auch noch Geld dafür bezahlen sollten.
Diese Art von grundsätzlicher Arroganz und Ablehnung gab es in der Stuttgarter Szene nicht. Da ging man auf Konzerte, weil man neugierig war, aber man brachte sich nicht von vornherein so fordernd und ablehnend in Stellung. Alptruck hatte uns freilich darauf vorbereitet, es sei bei Teilen der Frankfurter Szene ein übliches Verhalten. Vor allem Rübe und Wolfi sollten dem etwas entgegen setzen können, dachte ich, und wenn die Leute es derber mögen, sind sie hier nicht falsch.
Es gab aber auch Leute, die schon zu viel getankt hatten, bevor das Konzert überhaupt anfing, und es kamen auch aggressive Sprüche. Insbesondere Rübes Bart und Patchwork-Hose schienen ein paar Leuten zu missfallen.
Natürlich war seine Erscheinung damals vollkommen abseitig. Kein Punk lief mit Bart herum, und die aus bunten Flicken zusammengefügte Hose hätte bei jedem Hippie ideal gepasst. Bei einem Punk war das damals eigentlich ein No-Go, und hier zeigt sich der elementare Konflikt, den Rübe während seiner Stuttgarter Zeit verkörperte. Sich über alles hinwegzusetzen und ein No-Go nicht zu akzeptieren, war natürlich Punk in Reinform.
Es war das, warum ich dabei war, warum manche andere dabei waren, mit denen ich befreundet war. Die Selbstverwirklichung (ein Wort, das es damals nicht gab), sein eigenes Ding durchziehen, auf die Normen und auf Regeln scheißen, eben nicht den Erwartungen irgendwelcher Leute entsprechen, und ja, dafür auch deren Unverständnis, deren Ablehnung und Provokation ertragen, das war Punk.
Und so war Rübe durch und durch Punk – bis zu jenem Punkt, der zum Beispiel in der bereits erwähnten Abrechnung mit Wolfi im »Gegengift« 1982 sich Bahn brach, dem egomanischen, selbstzentrierten und selbstgerechten Dünkel, das er anderen vorwarf und selbst ebenfalls an den Tag legte. Seine Auflehnung gegen Leute, die angeblich anderen versuchten zu sagen, was Punk sei, verlor ihre Glaubwürdigkeit in dem Augenblick, in dem er selber anfing genau dies zu tun.
Das Wort Hippie stand in Raum. Es gab ein paar kleinere Rangeleien, ein paar laute Worte. Es würde sich geben, wenn die Band anfangen würde zu spielen.
Ich erkannte in den folgenden Minuten, dass Ätzer 81 sich in keinster Weise darauf vorbereitet hatten, dass sie ein Publikum in einer fremden Stadt unter Umständen würden für sich gewinnen müssen. In mir entwickelte sich hier eine Distanzierung zu der Band, die ich hierher vermittelt hatte, die ich nicht genau erklären konnte. Ich konnte nur Symptome erkennen, ein paar Momente, in denen ich am liebsten auf die Bühne gesprungen wäre, und Wolfi das Mikro abgenommen hätte, weil ich mir dachte, das funktioniert so nicht, nicht hier, nicht vor diesem Publikum. Wolfi machte die gleichen Ansagen, als würden sie in Stuttgart spielen, in seinem typischen Schwäbisch, in seiner Grobschlächtigkeit, ignorant auch gegenüber dem Publikum, das ihn nur teilweise verstand und seine Anspielungen auf Personen, Begebenheiten oder Eigenheiten der Stuttgarter Szene nicht entschlüsseln konnte. Es hätte für dieses Publikum wenigstens ein paar erklärende Ansagen gebraucht, die die Songs einordnen, auch wenn man über Stuttgart gar nichts wusste, aber das hatte er nicht präsent, das war ihm nicht bewusst und wohl auch irgendwie egal.
FORTSETZUNG FOLGT