1982: Der geplünderte Kühlschrank im Hausbesetzer-Café
»Kiel, im Frühjahr 1982: Eine Gruppe von Punks dringt in das besetzte Haus am Sophienblatt ein und besetzt das Besetzer-Café. Die Hausbesetzer konnten jetzt schlecht die Polizei rufen. Als der Kühlschrank wiederholt geplündert wird, kommt es zum Eklat …«
Stidi trug seine spakige, braune Lederjacke mit dem Bandnamen GBH auf dem Rücken. Wir rätselten lange, wofür die Abkürzung GBH stehen könnte. Die einen sagten Great Britain Heroes, die anderen Grievous Bodily Harm. Auch von der Frisur her sah er dem Sänger von GBH absolut ähnlich. Echt abgefahren!
Wir nahmen radikal das Hausbesetzer-Café unter Beschlag, was den Besetzern überhaupt nicht passte. Das Besetzer-Café Untergrund war somit partiell von anderen noch einmal besetzt – ein gefundenes Fressen und eine richtig gelungene Aktion, die sich herumsprechen würde – ganz nach unserem Geschmack.
Anfangs versteckten sich die Hausbesetzer, während wir Punks konsequent das Café okkupierten. Stidi lokalisierte inzwischen den Kühlschrank mit den alkoholischen Getränken und griff zum ersten Mal zu. Parallel dazu erzeugte Mig mit seinen markigen Sprüchen eine elektrisierende Atmosphäre. Er provozierte die Hausbesetzer, die ja schlecht die Schergen rufen konnten, bis zur Weißglut. Sie standen einer Übermacht an Punks gegenüber. Eine komische Situation! Einer der Protagonisten der Kieler Hausbesetzerszene, der Lange Jock, verschwand für einen Moment und tauchte mit einer Baseballkeule in der Hand wieder auf.
Ich saß derweil mit meinem Kumpel Steff auf einer Couch, von wo wir das Szenario wie Kinobesucher gut überblicken konnten. Nach einer Weile kam Zico, einer der Alt-Punks, zu uns, und wir unterhielten uns über Punkbands. Er gab uns einen absoluten Geheimtipp. Zico empfahl die LP einer Band namens One Way System:
„Das ist eine bahnbrechende Scheibe, total. Die müsst ihr euch so schnell wie möglich besorgen! Die LP heißt ’All Systems Go’!“
Ich wiederholte den Band-Namen noch einmal um ihn mir einzuprägen:
„Wah? One Way System?“
„Ja, One Way System, superhart und geile Texte!“
„Hol’ ich mir!“
Als Nachwuchspunks freuten wir uns über diesen unerwarteten Plattentipp. Es wirkte ein wenig, als wollte der Alt-Punk in der Szene Aufbauhilfe leisten, weil wir zum ersten Mal mit den Großen loszogen.
Natürlich besorgten wir uns die Platte schnellstmöglich, und sie wurde als uneingeschränkte Kultplatte erkannt. Darüber brauchten wir nicht zu diskutieren. Nachdem Zico wieder vom ausgeleierten Sofa aufstand, setzte sich zu unserer Überraschung auch noch Gonnrad zu Steff und mir.
„Lässt ma ziehn?“, fragte er, und ich reichte ihm meine HB-Filterzigarette, die ich am Vorabend von meinem Vater aus dem Wohnzimmerschrank gezockt hatte. Ich fühlte mich geadelt.
„Der lange Hausbesetzer geht mir auf die Nerven!“, sagte ich zu Gonnrad.
Er zog daraufhin ein weiteres Mal genüsslich von der Zigarette und sagte:
„Der tut nichts!“
„Der zittert ja schon am ganzen Körper!“, betonte Steff.
„Egal!“
Gonnrad, ein gelernter Isolierer, war der unumstrittene Oberpunk; darüber gab es kaum Diskussionen, das sah sogar Tutti so. Gonnrads Sprache färbte gleich auf uns ab. In einer Ecke des Besetzer-Cafés wurde es jetzt tumultartig. Der Lange Jock in seiner Funktion als Oberbesetzer wollte den Tresenbereich mit seiner Keule schützen, als Stidi versuchte, der restlichen Getränke im Kühlschrank habhaft zu werden. Als Stidi es schaffte, die letzten Flaschen an sich zu reißen, die er mit beiden Armen vor dem Brustkorb festklammerte, eskalierte der Streit.
Der lange Jock, die männliche Ikone der Kieler Hausbesetzerszene, veranstaltete fürchterliche, horrorshow-mäßige Drohgebärden, bis es zu einem ersten Handgemenge kam. Da entschlossen wir Punks uns schlussendlich zum Rückzug – inklusive der erbeuteten Getränke. Jock, der Zweimeterlackel, war einfach zu unberechenbar. Wahrscheinlich wieder vollgepumpt mit Drogen und stark erregt, wirkte er mit seinem Baseballschläger zum Äußersten bereit. Er zitterte immer noch, wahrscheinlich absichtlich geschauspielert als demonstrative Drohgebärde, und klammerte sich wild fluchend an die Keule. Währenddessen verließen wir erheitert das besetzte Haus. Es stand 1:0 für die Punks.
Dieser Kleinkrieg mit den Hausbesetzern trug dazu bei, dass mehrere der Kieler Punks später zum Skinheadtum übertraten. Aber dazu kommen wir noch. Die besetzten Häuser Kiels wurden bald abgerissen und musste einem hochmodernen Einkaufszentrum weichen. Mit gespaltenen Gefühlen beobachtete ich später – im Juli '83 – den Einsatz des Abrissbaggers, der die Wände eines der alten Häuser einfach kaputt hackte und so Schutt und Staub erzeugte. Die besetzten Häuser waren jetzt Vergangenheit.