1979: Dschingis Kahn und Rocknroll
Gelas Erinnerungen (4)
Ich sah jetzt auch aus wie ein Punk. Ich hatte mir die Haare geschnitten und am Oberkopf blondiert. Ich trug meistens einen alten Mantel, den ich am Rücken mit Neonfarbe besprühte. Meine Mutter hatte jede Menge Klamotten aufgehoben, so fand ich alte Unterröcke, Netzunterhemden und Satinschlafanzüge, die ich mit Ketten, Netzstrumpfhosen und Stöckelschuhen aufhübschte. Meine Eltern störten sich nicht an meinem Aussehen, waren sie doch schon vorher einiges von mir gewohnt. Wenn ich sie besuchte, dann lief ich vom Bahnhof durch das ganze Dorf. Einige Jugendliche riefen mir dann »Nina Hagen« oder »ist kein Fasching mehr« hinterher.
Von den Besuchen bei meinen Eltern brachte ich regelmäßig Essen mit, ich hatte sowieso manchmal das Gefühl eine Familie versorgen zu müssen. Vorher wurde ich auch von den Jüngeren schon »Mother Punk« genannt, dabei war ich so alt wie Sid Vicious. Der lebte allerdings nicht mehr.
Als ich die Schlagzeile über seinen Tod in der Bildzeitung sah, die mir jemand gegenüber in der Bahn las, da dachte ich: »Ich bin schon wieder zu spät«, genau wie damals, als ich vierzehn war.
Aber ich lebte. Ich wurde oft von depressiven Gedanken und Panikattacken heimgesucht, wogegen ich mit Diazepam ankämpfte. Der regelmäßige Konsum von Alkohol und das Testen aller möglichen chemischen Substanzen half mir da auch nicht wirklich.
Unsere WG funktionierte recht gut. Wir hatten immer etwas zu essen und irgend einer machte immer den Abwasch. Nur in Christels Zimmer durfte nicht aufgeräumt werden. Der ganze Fußboden war mit Bierflaschen und Dosen bedeckt und er wechselte nie seine Bettwäsche. Er nannte sein Bett Schmuddelkuhle. Einmal, als er nicht da war, sammelte ich den Müll ein und saugte den Fußboden. Hinterher gab es Ärger.
Sowieso hatte Christel recht seltsame Anwandelungen. Er behauptete, die peinliche Gruppe »Dschingis Kahn« gut zu finden und pinnte sich Bravo-Poster von ihnen an die Wand. Etwas ernster meinte er es dann mit seiner Rockabilly-Phase. Er frisierte sich eine Minitolle und nähte sich eine Südstaatenfahne auf seine Jeansjacke. Er nannte das ganze dann Punkabilly. Das mit der Fahne provozierte schon so einige.
Auch wir Mädels interessierten uns für Rockabilly und nahmen Kontakt zum Rock’n’Roll-Club auf, obwohl die Presse uns die Teds, nach den Hippies, als neue Feindbilder einreden wollte.
Bei Besuchen des Clubs lernten wir auch einige Mitglieder kennen. Besonders Kira und Lena fuhren regelmäßig zum Tanzen in den Club, angezogen mit Petticoat und spitzen Ballerinas. Die Klamotten ließen sich prima in den Punk-Style integrieren und gab es günstig in jedem Secondhand-Laden.
Ich fand es im Rock’n’Roll Club dann schon ziemlich angestaubt: Die Leute sahen nicht nur genauso aus wie in den 50ern (mein Geburtsjahrzehnt), sondern verhielten sich auch so. Die Mädels tranken Cola und die Jungs Bier, die Jungs bezahlten, hielten die Türen auf, halfen in die Jacken und hatten den Berufswunsch Soldat oder Polizist. So mein Eindruck. Bald langweilte es.
Wir Punks hatten keine Anlaufstelle mehr und trafen uns jetzt wieder in der »Roten Kuh« und der »Rotation«. Manchmal hatte jemand ein Auto zur Verfügung und wir fuhren irgendwo zu einem Konzert, z.B. nach Bremen zu Sylvester oder mit dem Zug mal schnell alle zusammen nach Braunschweig, andere Punks besuchen.
Einmal studierten wir vorher auf dem Bahnsteig Lieder ein, um diese dann in Braunschweig den befreundeten Punks vorzutragen. Ich erinnere mich auch an eine Fahrt in einem kleinen Kastenwagen, wo wir uns mit ca. dreizehn Leuten hinein quetschten und unterwegs von einer Streife angehalten wurden, weil der Wagen hinten zu tief hing.
Wir mußten alle aussteigen, und sie trauten ihren Augen nicht, wieviele wir waren. Natürlich durften wir nicht weiterfahren und liefen nun frierend im Dunkel am Straßenrand entlang und versuchten verzweifelt zu trampen. Kein Auto hielt an. Später sammelten uns nette Eltern mit Auto ein, die von jemandem herbeigerufen wurden, der es zu einem Telefon geschafft hatte.