1978: Eisenwaren gegen Langeweile
Rosa – Erinnerungen an den jungen Punk (2)
Ich hatte noch immer keine kulturellen Referenzen, mir fehlte es schlicht an Grundwissen. Ich kannte nichts außer schlimmen Jugendromanen aus der Leihbücherei und Musik aus dem Radio, deren Titel ich immer falsch verstand, weil ich kein Englisch sprach, und Disco 75 mit Ilja Richter. Ich kannte niemanden, der mir etwas sagen, zeigen oder beibringen konnte, was sich von der absoluten Gleichförmigkeit des Lebens an der Straßenecke unterschied. Die Jungs dort waren keine angry young men, sie schienen sich auch nicht zu langweilen bzw. schien ein Zustand des Gelangweiltseins ihr natürlicher zu sein, als sei es an sich schon eine Leistung, das Vergehen der Zeit zu meistern, ohne dass in dieser Zeit auch noch etwas passieren muss. Ich dagegen wollte immer, dass etwas passiert. Doch zunächst passierte gar nichts. Im Anschluss an den Kinobesuch gab es eine Wurst mit Pommes, dann ging es in die Disko, wo ich regelmäßig abgewiesen wurde, nicht aufgrund meines noch jungen Alters, sondern weil ich nicht richtig angezogen war. Ich löste das Problem, indem ich mir ein Paar ziemlich enger bordeauxfarbener Feincordhosen zulegte, Stiefeletten mit Messingbeschlägen an der Spitze und am Absatz sowie ein goldfarbenes Hemd mit einem schwarzschillernden Muster drauf, dass ich für Barock hielt.
Im Mr. Drinks Beerhouse im Souterrain unter einem ... vergessen, was das für ein Laden war – Elektrohaushaltsgeräte? ... ging es Disco-Disko-mäßig zu Sache, mit Van McCoys The Hustle, mit The Trammps’ Disco Inferno (»Burn, Baby, burn!«) und dem ganzen Musikpaket aus dem Film Saturday Night Fever. Dreiviermal am Abend gab’s für zwanzig Minuten Langsam- bzw. Engtanzen – das nannte sich Stehblues.
Die Kunde von den Sex Pistols hatte mich noch immer nicht erreicht. Später würde sogar Johnny Rotten sagen: »God, I love disco. I see no problem admiring the Bee Gees and being in The Sex Pistols.« (5) Es ging um Widersprüche und auch Übereinstimmungen zwischen der zwar irgendwie hedonistischen Attitüde der letztlich doch spießig-konformen Diskoszene der niedersächsischen Hauptstadt und den demnächst anstehenden unerhörten Entwicklungen, die der Punk bringen sollte. (6)
Der Alkoholverkauf an Minderjährige stellte kein Problem dar. Zur Happy Hour gab’s zwei Futschi (7) für zwei Mark. Es war klar, worum es ging, war es immer gewesen, auch hier. Nicht so klar war, wie es zu bekommen war. Ich befand mich mitten in einer Zeitenwende, doch das wusste ich nicht. Auch wie radikal diese ausfallen würde, sollte mir erst sehr viel später bewusst werden. Einerseits forderten die Jungs die Mädels noch richtig altmodisch zum Tanze auf. Da wurde hofiert, man flirtete, schickte Emissäre, die zwischen den Tischen und der Tanzfläche hin- und hereilten. Zur gleichen Zeit gab es bereits welche, die umstandslos nach dem Klo verschwanden, wo sie fickten und Drogen nahmen. Das was unerhört und sorgte wochenlang für Gesprächsstoff. Ich hielt mit, so gut es eben ging, bzw. ich tat eben so, als würde ich mithalten, als sei ich im Bilde, obwohl ich nur eine vage Ahnung hatte. Einen Joint immerhin hatte ich schon geraucht. Ich schaffte es nie, eine der Diskomiezen abzuschleppen, obwohl ich mir immer einzureden versuchte, dass diese scharfen Zwanzigjährigen doch ganz wild nach einem unverdorbenen Jungen sein müssten.
Eines Nachts passierte etwas Seltsames. Der DJ (damals wurden die Stücke teilweise noch angesagt) verkündete, er werde eine ganz neue, brandheiße Scheibe spielen, mit einem Musikstil, »wie ihr ihn noch nie gehört habt ... nämlich ... PUNK!« – Es war dann Ça Plane Pour Moi von Plastic Bertrand, was ein instantaner Renner wurde und von da an jeden Abend lief. Es wurde heftig getanzt zu diesem Stück, allerdings nicht im ... naja ... klassischen Disco-Tanzstil, sondern tatsächlich in so etwas wie einem ungelenken Proto-Pogo, der sich wie von selbst ergab.
Über Punk hatte ich zum ersten Mal in der TV-Zeitschrift Hörzu gelesen, in einem Programmhinweis zu irgendeinem Kulturmagazin, das dem neuen Phänomen aus England einen Beitrag widmete. Es gab ein Bild: ein Kinosaal vollbesetzt mit Leuten, die alle rote, grüne oder schwarze Haare trugen, schwarze Jackets und 3D-Brillen. Unter dem Foto stand: »Neue Jugendbewegung aus England. Es sind Punks. Sie lachen nie.« Das Problem: auf dem Foto lachten alle. Wirklich alle.
Ich lernte auf Schaufenstergestalter und jobbte nachts in einer Kneipe namens Waldhäuschen. Für den Auftritt als Auszubildender bei Wertheim hatte ich mir einige Hemden zugelegt, die tagsüber schick neutral und nachts bloß schick waren. Die Feincordhose in Bordeaux gab es noch immer, auch wenn sie inzwischen ziemlich abgetragen war. Zwei schwarze Exemplare waren dazugekommen. Eine Levi’s 501 gab es auch schon. Beim Schuhwerk wechselte ich nach Anlass und Laune zwischen Turnschuhen (Puma), Stiefeletten (ochsenblutfarben mit Messingbeschlägen) und Combat Boots (schwarz).
Die Entscheidung, Punk zu werden, traf ich in einer persönlichen Krise. Meine erste Freundin – Marina – hatte mich wegen eines Typen von den Eagles verlassen, der eine Honda Dax fuhr. Ich sah die beiden jeden Tag, sie hatten Lehrstellen in derselben Firma im Viertel, gleich gegenüber vom Waldhäuschen, wohin sich die Spielplatz- und Kioskszene inzwischen verlagert hatte.
Der Übergang war einfach. Ich erklärte ganz sachlich, dass ich nunmehr ein Punk sein würde. Für 50 Mark kaufte ich mir von einer Arbeitskollegin eine schwarzgrüne, hüftlange Lederjacke, die ihr Freund als zu altmodisch empfand. Diese Jacke versah ich mit Sicherheitsnadeln und Messingketten vom Eisenwarenhändler. Sie würde in den nächsten zwei Jahren mein wichtigster Besitz sein. Auch die Bordeauxfarbenen wurden jetzt richtig hergenommen und mit selbstgemachten »Bondage«-Applikationen ausgestattet. Nur eine Woche später datete ich bereits ein Mädchen, das sich Dussel nannte, die Sängerin der Hannoveraner Punkband Blitzkrieg. Der Wechsel der Szene, der ja Zweck der Übung gewesen war, brachte Konsequenzen mit sich, die ich nicht bedacht hatte. Mein neues Outfit und Gebaren waren nicht wirklich zu vereinbaren mit den Anforderungen, die an einen jungen Dekorateur gestellt wurden. Meine Kollegen trugen Seidenschals zu Rollkragenpullovern und Cordsakkos mit Lederflecken an den Ärmeln. Sie waren Fans von Rattanmöbeln und orientalischem Zeugs, das man da draufstellen konnte. Ich war zwar immer noch an den Präsentations- und handwerklichen Techniken interessiert, jedoch tödlich gelangweilt von den Dingen, die da präsentiert wurden. Dire Straits konnte ich auch nicht mehr hören. Folgerichtig schmiss ich die Lehre.
(5) Loaded Magazine, April 1998
(6) In seinem Text Your Disco Needs You! (nach einem Neo-Disco-Titel von Kylie Minogue aus dem Jahr 2000) schreibt Manfred Prescher: »Disco Inferno von den Trammps ist eines der Lieder, die den schleichenden Übergang vom knackigen Funk der frühen und mittleren 70er-Jahre [...] hin zum offensiv hedonistischen Gehabe der Saturday-Night-Fever-Ära markierten. Die genannten Künstler schafften den Sprung unter die Glitzerkugel auch, weil ‚Disco‘ in den USA schon Mode war, bevor die Bee Gees und Travolta das rhythmische Ausstrecken der Arme und das Tragen beau-hafter Gecken-Klamotten salonfähig machten. Oder, anders herum: Ein Isaac Hayes oder ein Bootsy Collins waren bereits Paradiesvögel im Studio 54, bevor die Massen aus der Vorstadt das mausgraue Büro-Outfit wechselten und sich von John Does in Könige der Nacht verwandelten. [...] Überhaupt: Alles war möglich. [...] Wenn man so will, war die Disco-Welt ein abgeschotteter Planet der Toleranz. [...] Hautfarbe und Alltagsidentitäten spielten keine Rolle. [...] Alles geht, ‚und wir sind dann Helden für einen Tag’«. (evolver.at/stories/Disco_Stu_Vol_1/, zuletzt besucht am 4. September 2011) – Alles geht, und wir sind dann Helden für einen Tag – obwohl Prescher sich damit explizit auf Disco bezieht, ist das doch auch noch Bowie in Berlin Ende der 1970er und andererseits schon wieder der in seinem Erscheinungsjahr 1983 nach der vollendeten Vergangenheit gewendete Titel eines Readers mit Texten aus deutschsprachigen Punk-Fanzines der Jahre 1977 bis 1981: Wir waren Helden für einen Tag, herausgegeben von Hollow Skai, dem Hannoveraner Punk-Intellektuellen und NoFun-Label-Betreiber (u.a. Hansaplast, Rotzkotz), der von den »Straßenpunks« wie Blitzkrieg herzlich gehasst wurde. Will sagen: Punk war immer näher an Disco, als es aussah. Und umgekehrt. Auch Disco zog gewalttätigen Hass auf sich, etwa bei den Anti-Disco-Ausschreitungen in Chicago im Jahre 1979.
(7) Weinbrand-Cola im »Tönnchen«, woanders auch Tutschi geheißen