1975: Vorkriegsjugend in Hannover
Rosa – Erinnerungen an den jungen Punk (1)
Im dem Jahr, in dem nach einer später vorgenommenen Zeitrechnung der Punk geboren wurde, war ich 14 Jahre alt. Im November 1975, als die Sex Pistols ihr Debütkonzert an der Londoner St. Martins School of Art and Design gaben, trieb ich mich in den schlecht beleuchteten Straßen eines hannoverschen Vorstadtbezirks herum, der im Kern noch ganz dörflich verfasst war, größtenteils jedoch aus Mietskasernen und Genossenschaftsblocks bestand und an den Rändern zu Wald, Wiesen und Kleingärten zerfaserte. (1)
Dort lungerten ältere Jugendlichen an einem Eckkiosk herum. Sie trugen Schlaghosen mit Fuchsschwänzen am Gürtel und cowboystiefelartige Stiefeletten mit schrägen Absätzen. Echte Cowboystiefel waren unerschwinglich.
Wir Jüngeren beobachteten sie vom gegenüberliegenden Spielplatz, wie sie ihr Bier tranken, über die Leistungen ihrer Mopeds quatschten bzw. über die Autos, die sie sich irgendwann kaufen würden. (2)
In Hannover-Kleefeld gab es 1975 einen lokalem Moped-Rowdyclub, der sich Eagles nannte - eine pathetische Bande von Wichtigtuern mit Adler-Patches und Zündapp-Aufnähern auf enganliegenden Jeansjacken oder -westen, die Fahrräder klauten und in die Keller der Sozialbauten einbrachen. Es waren nicht mal richtige Schläger von der Sorte, die wir Buffer nannten (deutsch ausgesprochen), stumpfsinnige junge Männer in beigefarbenen Cordsakkos (mit zu kurzen Ärmeln) und weiten 1970er-Jahre-Jeans, die an den Wochenenden die Tanzveranstaltungen im evangelischen Jugendclub unsicher machten und sich Prügeleien mit Gruppen jugoslawischer Gastarbeiter oder dem Nachwuchs britischer Besatzungssoldaten lieferten, die in einer kleinen Siedlung am Rande des Viertels wohnten. In dieser Szenerie markierte ich den Harten. Meine Kluft – so das zeitgenössische Wort für Outfit – bestand aus no brand „Nietenhosen“ oder schwarzen Cordhosen, einem blauen Marinepullover mit kariertem Hemd drunter und einer abgeschabten schwarzen Nappalederjacke, die ich im Sperrmüll gefunden hatte und die mir zwei Nummern zu groß war. Ich besaß auch ein Kapuzen-Sweatshirt. Die gab es damals schon. Ich kann mich allerdings nicht erinnern, dass sie allgemein verbreitet waren und auch nicht daran, woher das knallgelbe Exemplar stammte, auf das ich so stolz war. Meine Mitschüler und die Jungs und Mädchen, mit denen ich im Viertel rumhing, trugen diese klobigen 70er-Jahre-Schuhe mit dicken Sohlen und wulstigen Schmucknähten drauf, oder im Sommer clogs. Zugegeben, auch ich hatte ein Paar clogs aus falschem Krokodilleder und mit dicken kupferfarbenen Nieten rundherum. Seit ich allerdings im Kino Kubricks Clockwork Orange gesehen hatte, trug ich beinahe kein anderes Schuhwerk mehr als schwarze US Combat Boots. Das war zwar nicht schick, machte aber etwas Anderes her: Im Ganzen entsprach mein Auftritt eher dem der erwachsenen Arbeiter bzw. des Subproletariats meines Viertels und nicht dem der Halbstarken, wie die Erwachsenen die jugendlichen Eckensteher damals gerne nannten. In diesen Stiefeln lag eine andere, noch ganz unhippe Härte (zugegeben: Hipness gab es damals nicht unter dieser Bezeichnung).
Ich sage „mein Viertel“, weil ich keine Ahnung davon hatte, wie irgendwas irgendwoanders aussah. Ich las zwar ab und zu die Bravo, konnte jedoch kaum eine Beziehung herstellen zu dem, was dort propagiert wurde. Für Klamotten fehlte mir sowohl das Geld als auch der Sinn. Mein Musikgeschmack mäanderte zwischen Boney M., den Bay City Rollers (3) und Kraftwerk – Radio-Aktivität war die erste Langspielplatte, die ich besaß, und die hatte ich mir wegen des Covers gekauft und weil ein Bogen neongelber Aufkleber dabei lag.
Zunächst hielt ich das Rumstehen am Kiosk für den einzig wünschenswerten Zustand sozialer Existenz. Innerhalb weniger Wochen im Frühjahr waren die Älteren aus unserer Spielplatzgruppe zu den „Großen“ graduiert, wo wir Gelegenheit bekamen, unsere Männlichkeit unter Beweis zu stellen, indem wir breitbeiniges Stehen übten, die Daumen in die Taschen unserer Jeans hängten, mit einer ruckartigen Bewegung des Kopfes die Haare nach hinten warfen und aufmerksam die Einhaltung der immergleichen Zeremonie beachteten: Begrüßung, Bierkauf, Zuprosten, Trinken, gefolgt von Gelaber über Technik.
Konformität sicherte mir jene Anerkennung durch die Älteren, die ich suchte. Ich wusste es zwar noch nicht, doch spürte es schon: Das Kopieren von Verhaltensmustern und die letztlich „blinde“ Simulation einer Teilnahme an den „Gesprächen“ beließen mich in einer Art … ich erfinde mal eine Formulierung … innerem Außenseitertum. Ich interessierte mich einen Dreck für die Motorenvariationen, die für den neuen Audi 100 angeboten wurden, doch tat ich, als sei dies das wichtigste Thema der Welt und ich darin der beste Auskenner. Je weiter der Sommer fortschritt, desto weniger konnte ich mit den Bewohnern dieser kleinen Welt anfangen.
Abwechslung gab es an den Wochenenden. In Gruppen von fünf oder zehn ging es mit der Straßenbahn in „die Stadt“, wo man ein wenig am Hauptbahnhof rumstand, andere Gruppen ins Auge fasste und noch ein Bier trank, um dann zwar nicht Filme wie Einer flog über das Kuckucksnest oder Die verlorene Ehre der Katharina Blum zu sehen, aber immerhin doch (Beispiel) Deathrace 2000, in dem es um ein Autorennen ging, was ausreichte, die Eagles zu begeistern, und mich dazu brachte, über die Verwendung von Hakenkreuzen als Style-Element nachzudenken. (4)
(1) Dreißig Jahre später sollte ich von einem alten Freund aus der Punkszene, der allerdings einen gutbürgerlichen hannoverschen Background hat, erfahren, dass Kleefeld, jenes Viertel, in dem ich damals lebte, im Rest der Stadt berüchtigt gewesen war. Niemand ging in den Dohmeyers Weg, wenn er nicht musste.
(2) Die authentische Darstellung einer solchen Szene zeigte übrigens die ZDF-Miniserie Hans im Glück aus Herne 2 (1983, Regie: Roland Gall). Als ich die Folgen im Jahr 2010 erstmals sah, war ich erschüttert vom Ansturm der Erinnerungen. Ich hatte alles vergessen: die Kleidung und die Frisuren, die Sprache, aber auch die Ausweglosigkeiten des Milieus. Auch staunte ich darüber, dass sich – zumindest in Herne 2 – ein solches Milieu in immerhin acht Jahren kaum verändert oder entwickelt hatte. 1983, als die Serie gedreht wurde, fanden selbst in Hannover bereits ganz andere Sachen statt, z.B. die Chaostage.
(3) Kein Einzelfall – wo man hinschaut, es ist immer beides. In The Filth and the Fury spricht Johnny Rotten davon, wie sich Glen Matlock nie wirklich mit dem Realität der Sex Pistols als Punkband anfreunden konnte und eigentlich immer eher eine Karriere in einer Band wie den Bay City Rollers angestrebt habe.
(4) Erneut: Der Begriff »Style-Element« wurde seinerzeit nicht verwendet